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“Der Begriff Sklaverei erscheint mir nicht geeignet, um moderne Arbeitssituationen zu beschreiben“

Prof. Dr. Meena Gopal ist Associate Professor am Centre for Women’s Studies an der Universität in Puducherry, Indien. Im Interview spricht sie über die wirtschaftlichen Rechte von Frauen in Indien und warum der Begriff Sklaverei dennoch ihre desolaten Arbeitsbedingungen nicht gut beschreibt.

Eine Frau fegt im Bundesstaat Gujarat eine Straße
Eine Frau fegt im indischen Bundesstaat Gujarat eine Straße (UN Photo/Mark Garten)

Indien hat die fünfgrößte Volkswirtschaft der Welt. Nationale Gesetze, die gleiche Bezahlung für Männer und Frauen garantieren sowie Belästigung am Arbeitsplatz verbieten sollen, haben jedoch im informellen Sektor des Landes meist wenig Bedeutung. Im ‚Global Gender Gap Report 2024‘ des Weltwirtschaftsforums, der Länder nach ihrer Geschlechtergleichstellung bewertet, lag Indien 2024 auf Platz 129 von 146. 

Als Gründungsmitglied der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization - ILO), eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, hat das Land insgesamt 47 internationale Arbeitsnormen und ein Protokoll ratifiziert. Gleichzeitig wurden von Indien auch eine Vielzahl von ILO-Übereinkommen nicht ratifiziert, darunter das im Jahr 2019 verabschiedete ILO-Über­einkommen Nummer 190. Es erkennt das Menschenrecht an, frei von (geschlechtsspezifischer) Gewalt und Belästigung arbeiten zu können. 

Nach der Landwirtschaft und dem Bausektor ist die Textil- und Bekleidungsindustrie der drittgrößte Arbeitgeber des Landes. Der südliche indischen Bundesstaat Tamil Nadu gilt als das Zentrum der indischen Textilindustrie: Hier arbeiten 43 Prozent der Fabrikarbeiterinnen des Landes. Laut einer Studie der Nichtregierungsorganisation READ war die Hälfte der dort tätigen Wanderarbeiterinnen von Belästigungen und Missbrauch durch ihre Vorgesetzten oder männlichen Arbeitskräfte betroffen.

Aus diesem Grund hat das Regionalbüro von UN Women für Asien und den Pazifik im Februar 2024 gemeinsam mit der Regierung des indischen Bundesstaates Tamil Nadu die Gründung einer Koalition der Textilindustrie (TiC) zur Verhinderung von sexueller Belästigung einberufen. Auch UN Women führt in Indien Projekte durch, die zum Ziel haben, geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern und die Rechte von Frauen zu stärken.

Als Autorin und Co-Herausgeberin mehrerer Bücher, die sich unter anderem mit Frauen in der indischen Arbeitswelt befassen, spricht Prof. Dr. Meena Gopal, Associate Professor am Centre for Women’s Studies an der Universität in Puducherry, Indien, im Interview über die besondere Situation von Frauen in der indischen Arbeitswelt.


Foto: Meena Gopal/Pondicherry University

Frau Prof. Gopal, was sind aktuell die Haupt­probleme von Frauen in der Arbeits­welt in Indien? 

Über Frauen in der indischen Arbeits­welt zu sprechen, ist komplex. In der Ober- und Mittel­schicht gibt es immer mehr Frauen, die gut ausgebildet sind, studieren und in verschiedenen Arbeits­bereichen tätig sind. Trotzdem kann man die Situation von Frauen in Indien als ‚Krise‘ bezeichnen. Mangelnde Bildung, frühe Heirat und traditio­nelle Ge­schlech­ter­rollen führen noch immer dazu, dass Frauen der Eintritt in die Arbeitswelt verwehrt bleibt oder sie häufig im Niedrig­lohn­sektor arbeiten. Staatliche und offizielle Statistiken zu Frauen in der Arbeitswelt beziehen sich meist nur auf bezahlte Arbeit. In diesen Statistiken machen Frauen einen kleineren Anteil von 30 bis 35 Prozent aus. Frauen arbeiten jedoch sehr oft unbezahlt. Neben kostenloser Care- und Haus­arbeit, die Frauen übernehmen, arbeitet ein Großteil der erwerbs­tätigen Frauen im sogenannten ‚inoffiziellen oder unorga­nisierten Sektor‘.

Was bedeutet es, als Frau in dem infor­mellen Sektor zu arbeiten?

Etwa 90 Prozent aller indischer Arbeitskräfte arbeitet im informellen, unorga­nisierten Sektor. Davon machen Frauen etwa zwei Drittel aus. Der größte Teil der Arbeit­nehmen­den im informellen Sektor hat kaum Arbeitsrechte. Meistens handelt es sich um Ge­legen­heits­arbeiten ohne Arbeitsvertrag mit sehr niedrigen Löhnen. Die Präsenz von Frauen im informellen Sektor ist in Indien, wie in vielen Teilen der Welt, sehr hoch. Hinzukommt, dass der Lohn von Frauen meistens geringer als der von Männern ist.

In welchen Bereichen des informellen Sektor arbeiten besonders viele Frauen? 

Bis vor einigen Jahren waren Frauen vor allem in der Land­wirt­schaft vertreten. Die Landwirtschaft in Indien steht jedoch unter starkem wirtschaft­lichem Druck. Deshalb wandern Frauen aus indischen Bundes­staaten, in denen hauptsächlich Land­wirt­schaft betrieben wird, in andere Bundesstaaten oder andere Länder aus. Es herrscht die weitverbreitete Ansicht, dass nur verheiratete Frauen gemeinsam mit ihren Männern migrieren. Jedoch ziehen auch viele Frauen selbstständig in andere Bundes­staaten, um zum Beispiel in der Bau­industrie oder im Dienst­leis­tungs­bereich zu arbeiten. Der Bausektor ist in Indien sehr informell. Er stützt sich weitgehend auf Wander­arbeits­kräfte, die sich in der Peripherie einer Stadt ansiedeln. Am häufigsten arbeiten Frauen jedoch im Diens­tleistungs­sektor, vor allem als Hausangestellte. 

Wie sind die Arbeits­bedin­gungen in diesen Branchen?

Die Arbeits­bedin­gungen und der Gesundheits­schutz in diesen Branchen sind meistens sehr schlecht, die Löhne gering und es gibt wenig soziale Absicherung. Frauen sind außerdem gefährdeter als Männer, Opfer von Ausbeu­tung und (sexuali­sierter) Gewalt zu werden. Hinzukommt, dass die Kinder­betreu­ung nicht gewähr­leistet ist. Oft müssen Frauen diese über die eigene Familie oder ein Netzwerk organisieren.

Welche Rolle spielen Kasten in der indischen Arbeitswelt noch?

Die indische Verfassung verbietet Diskrimi­nierung aufgrund von Kasten und eine Reihe von Gesetzen. Es gibt auch eine Reihe von Gesetzen gegen Dis­krimi­nierung aufgrund von Kaste und Geschlecht. In der Praxis gibt es jedoch weiterhin Dis­krimi­nierung und Aus­grenzung. Auf dem Land sind diese häufig als Traditionen bezeichneten Aus­gren­zungen hinsichtlich der Kaste stärker vertreten als in der Stadt. Das ist ein auch ein Grund, warum von dieser Diskriminierung betroffene Menschen immer häufiger vom Land in die Städte ziehen. Aber auch in den Städten gibt es Diskriminierung aufgrund von Kaste, Klasse oder Geschlecht. Beispiels­weise wohnen Angehörige einer als niedrig geltenden Kaste oft in Slums. Sie führen oft als niedriger angesehene Reini­gungs­arbeiten aus, arbeiten als Haus­an­gestellte oder in der Sex­arbeit. Die Regierung hat jedoch auch eine Reihe von Programmen auf den Weg gebracht, die Angehörigen einer vermeintlich niedrigeren Kaste den Zugang zu Bildung erleichtern sollen.

Würden Sie die Arbeits­situation von Frauen in Indien als „moderne Sklaverei“ bezeichnen?

Der Begriff Sklaverei erscheint mir nicht geeignet, um moderne Arbeits­situatio­nen zu beschreiben. Der Begriff wird vor allem in feudalen Gesellschaften verwendet wird und scheint die Ausbeutung in kapitalis­tischen Gesell­schaften zu verwischen und zu verschleiern. Er spielt die Verant­wortung von westlichen Gesell­schaften und der Regierungen herunter, Gesetze, die Arbeiterinnen stärker schützen, durchzu­setzen.

Der Begriff lässt auch die Möglichkeit von Protesten außen vor, wie den Zusammen­schluss zu Gewer­kschaften. Große Gewerk­schaften sind jedoch häufig männlich geprägt und vertreten deshalb vor allem die Interessen von Männern. Aber es gibt auch Gewerk­schaften von Frauen. Und es gab in der jüngsten Vergangenheit Proteste von Frauen, die bessere Arbeits­bedin­gungen forderten und diese auch durchsetzten. 

Wie zeigen sich diese Protest­formen von Frauen? 

Vor einigen Jahren gab es zum Beispiel die Bewegung ‚Das Recht zu sitzen‘. Frauen, die in Saari Shops oder anderen Läden arbeiteten, hatten nämlich bis 2018 nicht das Recht, während der Arbeits­zeit zu sitzen oder sich gegen eine Wand zu lehnen. Auch die Mittags­pause oder Toiletten­gänge waren begrenzt, der Lohn gering. 2021 schlossen sich Frauen zusammen, um gegen die Ausbeu­tung von Arbeiterinnen zu protestieren, die beispielsweise über einen Online-Anbieter kosme­tische Dienst­leis­tungen nach Hause liefern. Sie beklagten hohe Provisions­sätze für das Unternehmen, niedrige Löhne und schlechte Arbeits­bedin­gungen. Diese Ereignisse zeigen, wie Frauen durch Protest ihre eigene Situation verbessern können.

Delia Friess

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