“Der Begriff Sklaverei erscheint mir nicht geeignet, um moderne Arbeitssituationen zu beschreiben“
Indien hat die fünfgrößte Volkswirtschaft der Welt. Nationale Gesetze, die gleiche Bezahlung für Männer und Frauen garantieren sowie Belästigung am Arbeitsplatz verbieten sollen, haben jedoch im informellen Sektor des Landes meist wenig Bedeutung. Im ‚Global Gender Gap Report 2024‘ des Weltwirtschaftsforums, der Länder nach ihrer Geschlechtergleichstellung bewertet, lag Indien 2024 auf Platz 129 von 146.
Als Gründungsmitglied der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization - ILO), eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, hat das Land insgesamt 47 internationale Arbeitsnormen und ein Protokoll ratifiziert. Gleichzeitig wurden von Indien auch eine Vielzahl von ILO-Übereinkommen nicht ratifiziert, darunter das im Jahr 2019 verabschiedete ILO-Übereinkommen Nummer 190. Es erkennt das Menschenrecht an, frei von (geschlechtsspezifischer) Gewalt und Belästigung arbeiten zu können.
Nach der Landwirtschaft und dem Bausektor ist die Textil- und Bekleidungsindustrie der drittgrößte Arbeitgeber des Landes. Der südliche indischen Bundesstaat Tamil Nadu gilt als das Zentrum der indischen Textilindustrie: Hier arbeiten 43 Prozent der Fabrikarbeiterinnen des Landes. Laut einer Studie der Nichtregierungsorganisation READ war die Hälfte der dort tätigen Wanderarbeiterinnen von Belästigungen und Missbrauch durch ihre Vorgesetzten oder männlichen Arbeitskräfte betroffen.
Aus diesem Grund hat das Regionalbüro von UN Women für Asien und den Pazifik im Februar 2024 gemeinsam mit der Regierung des indischen Bundesstaates Tamil Nadu die Gründung einer Koalition der Textilindustrie (TiC) zur Verhinderung von sexueller Belästigung einberufen. Auch UN Women führt in Indien Projekte durch, die zum Ziel haben, geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern und die Rechte von Frauen zu stärken.
Als Autorin und Co-Herausgeberin mehrerer Bücher, die sich unter anderem mit Frauen in der indischen Arbeitswelt befassen, spricht Prof. Dr. Meena Gopal, Associate Professor am Centre for Women’s Studies an der Universität in Puducherry, Indien, im Interview über die besondere Situation von Frauen in der indischen Arbeitswelt.

Frau Prof. Gopal, was sind aktuell die Hauptprobleme von Frauen in der Arbeitswelt in Indien?
Über Frauen in der indischen Arbeitswelt zu sprechen, ist komplex. In der Ober- und Mittelschicht gibt es immer mehr Frauen, die gut ausgebildet sind, studieren und in verschiedenen Arbeitsbereichen tätig sind. Trotzdem kann man die Situation von Frauen in Indien als ‚Krise‘ bezeichnen. Mangelnde Bildung, frühe Heirat und traditionelle Geschlechterrollen führen noch immer dazu, dass Frauen der Eintritt in die Arbeitswelt verwehrt bleibt oder sie häufig im Niedriglohnsektor arbeiten. Staatliche und offizielle Statistiken zu Frauen in der Arbeitswelt beziehen sich meist nur auf bezahlte Arbeit. In diesen Statistiken machen Frauen einen kleineren Anteil von 30 bis 35 Prozent aus. Frauen arbeiten jedoch sehr oft unbezahlt. Neben kostenloser Care- und Hausarbeit, die Frauen übernehmen, arbeitet ein Großteil der erwerbstätigen Frauen im sogenannten ‚inoffiziellen oder unorganisierten Sektor‘.
Was bedeutet es, als Frau in dem informellen Sektor zu arbeiten?
Etwa 90 Prozent aller indischer Arbeitskräfte arbeitet im informellen, unorganisierten Sektor. Davon machen Frauen etwa zwei Drittel aus. Der größte Teil der Arbeitnehmenden im informellen Sektor hat kaum Arbeitsrechte. Meistens handelt es sich um Gelegenheitsarbeiten ohne Arbeitsvertrag mit sehr niedrigen Löhnen. Die Präsenz von Frauen im informellen Sektor ist in Indien, wie in vielen Teilen der Welt, sehr hoch. Hinzukommt, dass der Lohn von Frauen meistens geringer als der von Männern ist.
In welchen Bereichen des informellen Sektor arbeiten besonders viele Frauen?
Bis vor einigen Jahren waren Frauen vor allem in der Landwirtschaft vertreten. Die Landwirtschaft in Indien steht jedoch unter starkem wirtschaftlichem Druck. Deshalb wandern Frauen aus indischen Bundesstaaten, in denen hauptsächlich Landwirtschaft betrieben wird, in andere Bundesstaaten oder andere Länder aus. Es herrscht die weitverbreitete Ansicht, dass nur verheiratete Frauen gemeinsam mit ihren Männern migrieren. Jedoch ziehen auch viele Frauen selbstständig in andere Bundesstaaten, um zum Beispiel in der Bauindustrie oder im Dienstleistungsbereich zu arbeiten. Der Bausektor ist in Indien sehr informell. Er stützt sich weitgehend auf Wanderarbeitskräfte, die sich in der Peripherie einer Stadt ansiedeln. Am häufigsten arbeiten Frauen jedoch im Dienstleistungssektor, vor allem als Hausangestellte.
Wie sind die Arbeitsbedingungen in diesen Branchen?
Die Arbeitsbedingungen und der Gesundheitsschutz in diesen Branchen sind meistens sehr schlecht, die Löhne gering und es gibt wenig soziale Absicherung. Frauen sind außerdem gefährdeter als Männer, Opfer von Ausbeutung und (sexualisierter) Gewalt zu werden. Hinzukommt, dass die Kinderbetreuung nicht gewährleistet ist. Oft müssen Frauen diese über die eigene Familie oder ein Netzwerk organisieren.
Welche Rolle spielen Kasten in der indischen Arbeitswelt noch?
Die indische Verfassung verbietet Diskriminierung aufgrund von Kasten und eine Reihe von Gesetzen. Es gibt auch eine Reihe von Gesetzen gegen Diskriminierung aufgrund von Kaste und Geschlecht. In der Praxis gibt es jedoch weiterhin Diskriminierung und Ausgrenzung. Auf dem Land sind diese häufig als Traditionen bezeichneten Ausgrenzungen hinsichtlich der Kaste stärker vertreten als in der Stadt. Das ist ein auch ein Grund, warum von dieser Diskriminierung betroffene Menschen immer häufiger vom Land in die Städte ziehen. Aber auch in den Städten gibt es Diskriminierung aufgrund von Kaste, Klasse oder Geschlecht. Beispielsweise wohnen Angehörige einer als niedrig geltenden Kaste oft in Slums. Sie führen oft als niedriger angesehene Reinigungsarbeiten aus, arbeiten als Hausangestellte oder in der Sexarbeit. Die Regierung hat jedoch auch eine Reihe von Programmen auf den Weg gebracht, die Angehörigen einer vermeintlich niedrigeren Kaste den Zugang zu Bildung erleichtern sollen.
Würden Sie die Arbeitssituation von Frauen in Indien als „moderne Sklaverei“ bezeichnen?
Der Begriff Sklaverei erscheint mir nicht geeignet, um moderne Arbeitssituationen zu beschreiben. Der Begriff wird vor allem in feudalen Gesellschaften verwendet wird und scheint die Ausbeutung in kapitalistischen Gesellschaften zu verwischen und zu verschleiern. Er spielt die Verantwortung von westlichen Gesellschaften und der Regierungen herunter, Gesetze, die Arbeiterinnen stärker schützen, durchzusetzen.
Der Begriff lässt auch die Möglichkeit von Protesten außen vor, wie den Zusammenschluss zu Gewerkschaften. Große Gewerkschaften sind jedoch häufig männlich geprägt und vertreten deshalb vor allem die Interessen von Männern. Aber es gibt auch Gewerkschaften von Frauen. Und es gab in der jüngsten Vergangenheit Proteste von Frauen, die bessere Arbeitsbedingungen forderten und diese auch durchsetzten.
Wie zeigen sich diese Protestformen von Frauen?
Vor einigen Jahren gab es zum Beispiel die Bewegung ‚Das Recht zu sitzen‘. Frauen, die in Saari Shops oder anderen Läden arbeiteten, hatten nämlich bis 2018 nicht das Recht, während der Arbeitszeit zu sitzen oder sich gegen eine Wand zu lehnen. Auch die Mittagspause oder Toilettengänge waren begrenzt, der Lohn gering. 2021 schlossen sich Frauen zusammen, um gegen die Ausbeutung von Arbeiterinnen zu protestieren, die beispielsweise über einen Online-Anbieter kosmetische Dienstleistungen nach Hause liefern. Sie beklagten hohe Provisionssätze für das Unternehmen, niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen. Diese Ereignisse zeigen, wie Frauen durch Protest ihre eigene Situation verbessern können.
Delia Friess