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Indigene bei den UN: Noch lange nicht am Ziel

76 Jahre Weltgemeinschaft der Völker – doch haben die indigenen Völker auch etwas zu feiern? Die UN-Charta steht für die Grundfreiheiten und Menschenrechte aller Menschen. Doch die Bedürfnisse von Völkern, die nicht gleichzeitig Nationalstaaten sind, wurden lange Zeit nicht bedacht.

Zwei Frauen in langen bunten Rücken stehen vor einigen internationalen Flaggen.
Carletta Tilousi und Dianna Uquash (Havasupai, USA) vor dem Völkerbundpalast in Genf. Foto: Helena Nyberg / Incomindios

Die Charta der Vereinten Nationen beginnt mit den Worten: „Wir, die Völker“. Aber bis in die 1970er Jahre wurden darin die besonderen Bedürfnisse Indigener Völker, die zuerst als „Minderheiten“ behandelt wurden, ignoriert. Erst 1981 wurden Indigene in einer Studie über Rassendiskriminierung erwähnt. Die damalige „Unterkommission für die Verhütung von Diskriminierung und den Schutz von Minderheiten“ der Menschenrechtskommission ernannte 1971 José R. Martínez Cobo aus Ecuador zum Sonderberichterstatter und beauftragte ihn, die Lage der Indigenen Völker zu untersuchen. Er zeichnete ein erschütterndes Bild von Völkern, die weltweit von Ausbeutung und Armut betroffen waren. Gleichzeitig war er der erste UN-Experte, der die Indigenen als Völkerrechtssubjekte mit eigenen Rechten beschrieb. Kein Wunder: 1974 marschierten sie in Genf vor den Toren des Völkerbundpalastes auf und forderten Einlass.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) war schneller in der Kodifizierung von Normen für die Bedürfnisse Indigener Völker. Als Vorläufer gelten die beiden Konventionen ILO 107 (1957) und ILO 169 (1989).

Flucht nach vorne – nach Genf

Die Besetzung von Wounded Knee 1973 im US-amerikanischen Süd Dakota war der Auslöser zur Gründung des Internationalen Indianischen Vertragsrates (IITC). Als politische Organisation des American Indian Movement reisten 1974 Vertreter des IITC an den Sitz der UN-Menschenrechtskommission in Genf und verlangten die Aufnahme in die Völkergemeinschaft. Denn die Indigenen hatten realisiert, dass weder Kanada noch die USA ihre Rechte anerkennen, geschweige denn umsetzen wollten. Der IITC war die erste Indigenen-Organisation, die 1977 den Konsultativ-Status des UN-Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC) erhielt.

In jenem Jahr hatten die Indigenen bereits „Verbündete“: UN-Angestellte öffneten ihnen wortwörtlich die Tore zur ersten regierungsunabhängigen Konferenz zum Thema Diskriminierung.

1981 fand die zweite NGO-Konferenz bei den UN statt. Schwerpunkt: Anerkennung der indigenen Landrechte; denn ohne Land keine Kultur und Identität als indigenes Volk. Bei beiden NGO-Konferenzen waren indigene Frauen sehr präsent, zumeist aus Nord-, Mittel- und Südamerika. Gemeinsam schafften sie 1982 die Einsetzung der „Arbeitsgruppe der indigenen Bevölkerungen“ (WGIP): Üblicherweise zuunterst in der UN-Hierarchie angesiedelt wurden fünf nicht-indigene Expertinnen und Experten beauftragt, sich mit der Lage der Indigenen auseinanderzusetzen und eine (nicht bindende) Erklärung der Rechte Indigener Völker auszuarbeiten, um diese der UN-Generalversammlung zur Abstimmung vorzulegen. Was die Staaten nicht voraussahen, war die Breitenwirkung der WGIP. Unter der Leitung der griechischen Menschenrechtsexpertin Erica-Irene Daes öffneten sie die WGIP für Indigene Völker aus allen Kontinenten. Über die Jahre wuchs die WGIP zur meistbesuchten UN-Veranstaltung des Jahres und zog nebst Indigenen auch die UN-Missionen, zivilgesellschaftliche und universitäre Kreise an; bis zu 2.000 Personen nahmen an den im Juli stattfindenden Sitzungen teil.

Vor allem Staaten, auf deren rohstoffreichen Territorien Indigene Völker leben, realisierten, dass in der WGIP Weichen gestellt wurden, die der bisher vorherrschenden und oft menschenrechtsverletzenden Praxis Einhalt gebieten könnte; die WGIP erhielt nämlich die Befugnis, konkrete Normen für den Umgang mit Indigenen vorzuschlagen – für eine Arbeitsgruppe eine erstaunliche Kompetenz. So beteiligten sich die USA, Kanada, Neuseeland und Australien erst in den 1990er Jahren an den Verhandlungen in den Sitzungen der WGIP, weil sie die wachsenden Selbstbestimmungstendenzen eindämmen und sicher gehen wollten, die Kontrolle über das Land der Indigenen nicht zu verlieren. Südamerikanische und afrikanische Staaten befürchteten die Stärkung separatistischer Bewegungen.

Die Reise zu den UN

Die UN-Menschenrechtskommission sah bald ein, dass sie von den Indigenen nicht verlangen konnte, alljährlich auf eigene Kosten nach Genf und später auch nach New York zu reisen. Oft sind Indigene mehrere Tage unterwegs, nur um zum nächsten Binnenflughafen zu gelangen. Dann die Reise in die Hauptstadt, um bei den USA oder der Schweizer Botschaft ein Visum zu beantragen. In Genf/New York brauchen sie Geld für Transport, Unterkunft und Essen.

1985 segnete die UN-Generalversammlung die Errichtung eines Freiwilligen Fonds zur Unterstützung indigener Delegierten ab. Er speist sich aus den Spenden der Mitgliedsstaaten. Alljährlich finanziert er circa 60 Delegierten Reise und Aufenthalt. Als 1995 die Menschenrechtskommission eine zweite Arbeitsgruppe einsetzte, um die Erklärung in eine Form zu bringen, welche von allen Beteiligten akzeptiert werden konnte, brauchte es mehr Mittel für die kontinuierliche Arbeit bei den UN. Es dauerte noch weitere 12 Jahre, bis 2007 der Erklärungsentwurf zur Abstimmung vor die UN-Generalversammlung kam. Er bildet den kleinsten gemeinsamen Nenner der Anerkennung indigener Rechte, welche indigene Delegierte den Regierungen auf dem neutralen Boden der UN abgerungen hatten. Sie mussten eine Verwässerung ihrer Rechte auf Land und Selbstbestimmung, kollektiver Organisation ihrer Gemeinschaften, auf eigene Sprache, Kultur und Regierungsform in Kauf nehmen.

Der Indigenen-Fonds des Weltkirchenrats und der durch IWGIA in Dänemark verwaltete Human Rights Fund sowie der von Incomindios initiierte Swiss Fund waren nebst dem UN-Voluntary Fund die einzige finanzielle Unterstützung für die Indigenen. Ohne diese Fonds der Zivilgesellschaft hätten die Indigenen keine Chance gehabt, bei Sitzungen, die ihre Rechte direkt betrafen, ihre Stimme von Jahr zu Jahr einzubringen.

Die WGIP war anfangs das einzige UN-Organ, das den indigenen Delegierten die Möglichkeit bot, über ihre Lebensbedingungen zu berichten. So nahmen Hunderte von indigenen Delegierten die Schwierigkeiten auf sich, um in Genf ihre konkreten Anliegen vorzubringen. Oft glaubten sie, dass sich unmittelbar etwas zum Guten wenden würde. Viele reisten enttäuscht wieder ab. Trotz aller Kritik waren die UN der Ort, an dem sie sich vernetzen und austauschen konnten. Ambitionierte junge Indigene erhielten die Chance, ein Praktikum beim UN-Hochkommissariat für Menschenrechte zu absolvieren.

UNDRIP – nach 25 Jahren harter Arbeit

Den Indigenen war klar, dass nach der Ausarbeitung eines Deklarationsentwurfes die WGIP aufgelöst würde und sie kein Gremium mehr hätten, um ihre Rechte voranzutreiben. Sie intensivierten ihre Lobby-Arbeit bei den UN – und erzielten Erfolge: 2001 setzte der Menschenrechtsrat den ersten UN-Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker ein, der ihre konkreten Anliegen anhört.

2002 wurde außerdem das paritätisch strukturierte Ständige Forum für indigene Angelegenheiten geschaffen, das sich im Frühling in New York trifft. Es besteht aus acht Regierungsvertreterinnen und -vertretern sowie acht von indigenen Organisationen vorgeschlagenen Mitgliedern. Leider kommt es immer wieder vor, dass Indigene aus „terrorgefährdeten“ Ländern kein Visum für die USA erhalten – so etwa die Tuareg aus Mali und Niger oder Indigene aus Kolumbien. Diese Praxis ist somit eine klare Diskriminierung und ein Rückschritt in der Förderung indigener Rechte.

Es dauerte fast ein Vierteljahrhundert seit der Einsetzung der WGIP im Jahr 1982, bis die United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples (UNDRIP) am 13. September 2007 von der UN-Generalversammlung mit vier Gegenstimmen und elf Enthaltungen abgesegnet wurde. Die Zustimmung der vier Länder erfolgte später: Australien 2009, USA 2010, Neuseeland 2010, Kanada 2016.

Die UNDRIP ist laut eigener Beschreibung der „Minimalstandard für das Überleben, die Würde und das Wohl Indigener Völker“ (Art.43).

Erste Erfolge, doch noch lange nicht am Ziel

In den 75 Jahren seit Bestehen der UN ist der ganze Prozess bis zur Verabschiedung der UNDRIP für die Indigenen wegweisend gewesen. Kein anderes völkerrechtliches Dokument hat so lange gebraucht und die Betroffenen von Anfang an einbezogen wie die UNDRIP. Sie gewährleistet einen völkerrechtlichen Status und bedeutet eine formelle Weiterentwicklung der Idee der Menschenrechte. Zwar ist sie nicht bindend, aber durch ihre lange Entstehungsphase hat sie eine Art Gewohnheitsrecht erhalten – und dadurch moralisches Gewicht.

Die Indigenen haben sich ihre Präsenz bei den UN schwer erarbeitet. Es ist nicht selbstverständlich, dass sie heute eine Deklaration und das darin wichtige Prinzip der „freien, vorherigen und informierten Zustimmung“ zu der sie betreffenden Land- und Rohstoffnutzung in Händen halten.

Helena Nyberg, Konferenzdolmetscherin und Übersetzerin. Seit 1980 Mitglied von Incomindios, ehemalige Geschäftsleiterin, heute Herausgeberin des Incomindios-Magazins und UN-Liaison.

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