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Im Namen der Menschheit: Verbrechen gegen das Völkerrecht vor deutschen Gerichten

Immer öfter werden Verbrechen gegen das Völkerstrafrecht vor deutschen Gerichten verhandelt – zuletzt die Taten eines syrischen Geheimdienstmitarbeiters. Der Prozess wurde nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip geführt. Was hat es damit auf sich?

Eine Zeichnung aus dem Koblenzer Gerichtssaal in schwarz/weiß: Rechts der Verurteilte Anwar Raslan, ein Mann mit Glatze und Kopfhörer für die Übersetzung; links davon sein Anwalt in Anzug und Robe.obe
Der Verurteilte Anwar Raslan (rechts) im Koblenzer Gericht (Zeichnung: Nasser Hussein)

Am Anfang steht Nürnberg. Hier tagte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Internationale Militärgerichtshof. Die Prinzipien, die aus den damaligen Kriegsverbrecherprozessen gewonnen wurden, gelten seitdem als Geburtsstunde des Völkerstrafrechts. Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind demnach Völkerrechtsverbrechen. Hinzu kommt Völkermord.

Aufgrund des Kalten Krieges blieben diese Prinzipien lange nur Leitsätze ohne rechtliche Verbindlichkeit. Erst ein halbes Jahrhundert später wurden sie im Römischen Statut festgelegt, dem völkerrechtlichen Vertrag, der die Grundlage für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) darstellt. 123 Staaten gehören dem IStGH an – allerdings nicht die USA, Russland, China oder Indien.

Parallel zur Kodifizierung des Völkerstrafrechts vollzog sich eine wichtige Entwicklung in den einzelnen Staaten: Sie übertrugen die Grundlagen dieses Rechts in ihre eigene nationale Gesetzgebung. So auch in Deutschland, wo es seit 2002 ein eigenes Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) gibt. Auch hier sind die genannten Verbrechen aufgeführt und gelten seitdem als Straftaten im Sinne des deutschen Rechts. Hinzu kommt jedoch noch ein entscheidender Zusatz: Das Gesetz gilt „auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist“, das heißt von oder gegen Deutsche begangen wurde.

Was ist das Weltrechtsprinzip?

Im Kern enthält dieser Paragraph 1 VStGB zum „Anwendungsbereich“ das Weltrecht- oder Universalitätsprinzip. Es besagt, dass Völkerrechtsverbrechen nicht nur von den Staaten verfolgt werden können, auf deren Territorium oder von dessen Staatsangehörigen diese Taten begangen wurden, sondern überall. Damit ein Land das Weltrechtsprinzip anwenden kann, bedarf es allerdings der Anerkennung im nationalen Recht – wie im Fall des Völkerstrafgesetzbuchs in Deutschland. Laut Amnesty International gab es im Jahr 2019 in 16 Ländern Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip, die meisten davon in Frankreich.

Das Weltrechtsprinzip ist als Ergänzung zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gedacht. Denn allzu oft können sich die Verantwortlichen für schlimmste Verbrechen darauf verlassen, dass sie in den Ländern, in denen sie die Verbrechen begangen haben, nicht zur Rechenschaft gezogen werden – beispielsweise, weil sie weiterhin hohe staatliche Posten bekleiden. Um diese Lücken der Gerichtsbarkeit zu schließen und das Problem der Straflosigkeit zu verringern, kann das Weltrechtsprinzip angewandt werden.

Einzelstaatliche Gerichte können in Ergänzung zum IStGH dazu beitragen, den Verantwortlichen schwerwiegender Verbrechen den Pro­zess zu machen. Auf diese Weise werden sogenannte „sichere Häfen“ (Safe Havens) geschlossen – also Rückzugsorte für Verbrecher, wo sie sich vor Strafverfolgung sicher wissen.

Syrische Folterer vor deutschen Gerichten  

Auch in Deutschland haben zuletzt solche Prozesse stattgefunden oder sind noch im Gange – und werden mit einem für Gerichtsverfahren unüblichen Medieninteresse verfolgt. Bei einer Anhörung des UN-Sicherheitsrats bezeichnete die Vertreterin Frankreichs Nathalie BroadhurstEnde November 2021 ein Verfahren vor dem Oberlandesgericht Koblenz als „un procès historique“, einen historischen Prozess.

In Koblenz wurde zu dieser Zeit gegen den ehemaligen syrischen Geheimdienstmitarbeiter Anslar Raslan verhandelt. Ihm wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit, mehrfacher Mord und weitere Delikte vorgeworfen. Als Mitarbeiter des Allgemeinen Geheimdienstes war er in der Hauptstadt Damaskus in der berüchtigten Abteilung 251 tätig. Am 13. Januar wurde er vom Oberlandesgericht Koblenz zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht, das den Fall bereits seit April 2020 behandelte, sah es als erwiesen an, dass er als Vernehmungschef an der Folter von mehr als 4.000 Menschen beteiligt war. Im Jahr 2021 war ein weiterer syrischer Geheimdienstmitarbeiter zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt worden.

Das Koblenzer Verfahren ist deshalb von so großer Bedeutung, da hier weltweit zum ersten Mal vor einem ordentlichen Gericht und anhand eines konkreten Falls die Folterpraktiken des syrischen Regimes öffentlich und rechtswirksam verhandelt wurden. Das Verfahren wurde in Deutschland aufgenommen, weil sich die beiden Verurteilten seit 2014 im Land aufhielten.

Kritische Stimmen bemängelten nach dem Urteilsspruch, dass mit den beiden Verurteilten keine Größen der syrischen Staatsführung, sondern nur „kleine Rädchen“ bestraft wurden. Zudem stand die Frage im Raum, in wie weit man mit dem Urteil der Gerechtigkeit für die Menschen in Syrien näher gekommen war. Yasmin al-Mashaan, die in Syrien fünf ihrer sechs Brüder an das Regime verloren hat, sagte nach dem Prozess: „Gerechtigkeit bedeutet für mich, dass der Traum wahr wird, den meine Brüder zu Beginn der syrischen Revolution hatten: ein gerechter und demokratischer Staat.“ In dieser Hinsicht gab es mit dem Koblenzer Verfahren kaum Fortschritte.

Ein weiteres Verfahren wird derzeit vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt verhandelt. Dort ist ein 37-jährigen Arzt aus Syrien wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord und Folter angeklagt. Seit Januar dieses Jahres läuft der Prozess. Es wird davon ausgegangen, dass er ähnlich wie das Verfahren in Koblenz zwei oder sogar drei Jahre dauern wird.

Fragmente von Gerechtigkeit

Die Frage, inwieweit mit rechtsstaatlichen Mitteln Gerechtigkeit hergestellt werden kann, ist so alt wie das Recht selbst. Und es ist fraglich, ob das Recht ausreicht, um systemische Verbrechen wie Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen. Denn diese werden oft im Krieg oder in Diktaturen begangen. Damit die Menschen Gerechtigkeit erfahren können, bräuchte es einen tiefergreifenden, politischen und kulturellen Wandel, anstatt nur die Ahndung einzelner Verbrechen: Den Sturz einer Diktatur, neue politische Kräfteverhältnisse und eine gesellschaftliche Aufarbeitung der begangenen Gräueltaten.

Doch auch wenn das nationale und internationale Strafrecht keine umfassende Gerechtigkeit angesichts schwerster und andauernder Menschenrechtsverletzung herstellen kann – einen Beitrag dazu leistet es durchaus. „Der Prozess ist ein erster Schritt, eine Annäherung an Gerechtigkeit“, so Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR).

Von Timon Mürer

Weitere Informationen:

  • Im Herbst 2022 erscheint ein Sammelband über „Syrische Staatsfolter vor deutschen Gerichten“, herausgegeben vom ECCHR und der Bundeszentrale für politische Bildung.

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