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Endstation Samos – Das neue Geflüchtetenlager und die Verschärfung des Asylrechts

Ein Jahr nach dem Brand in Moria wurde auf der griechischen Insel Samos ein neues Lager für Geflüchtete eröffnet. Es gilt als Pilotprojekt für Inseln an der europäischen Außengrenze. Doch wie sieht es vor Ort aus? Und welche Rolle spielen UN-Institutionen wie UNHCR und IOM dabei?

Hinter Stacheldraht sieht man zahlreiche weiße Containerbauten.
Das neue Lager von Zervou auf Samos. (Foto: Wasil Schauseil)

Nur 1,5 Kilometer Meer trennen die Insel Samos vom türkischen Festland. Sie ist einer der von der EU definierten„Hotspots“ – ein Hauptankunftsort von Asylsuchenden, die versuchen, über die Türkei in die EU einzureisen. Am 18. September wurde hier in einer aufwändig inszenierten Zeremonie das erste von mehreren “Multi-Purpose Reception and Identification Centres” eröffnet, wie sie in EU-Dokumenten genannt werden. Die griechische Regierung hat sich mit einem anderen Namen durchgesetzt: “Closed Controlled Access Center”. Dieser Name, „geschlossen kontrolliert“, gibt auch den Eindruck besser wieder, den das neue Lager bei Beobachtern erzeugt: 150.000 Quadratmeter aus weißen Containern, Beton, Lautsprecheranlagen, Überwachungskameras, Drehtüren und Metalldetektoren, begrenzt von zwei Reihen NATO-Stacheldraht. Im abgelegenen Zervou, acht Kilometer von der Inselhauptstadt Vathy entfernt, soll das neue Lager Sicherheit für die Bewohner, das Personal und die lokale Bevölkerung schaffen, sowie die „Auswirkungen der Einwanderung in den lokalen Gemeinschaften reduzieren“, wie es der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis ausdrückt. 48 Millionen Euro hat die EU in das „geschlossen kontrollierte“ Lager von Zervou investiert. Mit 228 Millionen werden die weiteren Lager auf Chios, Kos, Leros und Lesbos finanziert. Neben dem Bereich für Asylbewerber existiert auch ein Bereich für Abschiebegewahrsam, der für alle im Bau oder Planung befindlichen „geschlossen kontrollierten“ Lager vorgesehen ist. Für 3.000 Menschen ist das Lager von Zervou ausgelegt, derzeit kommen dort rund 300 Menschen unter.

Chronische Unsicherheit und endloses Warten

Im Vordergrund stehen einige Demonstrierende, die griechisch beschriftete Leintücher halten.
Protestkundgebung am Tag vor dem Umzug ins neue Lager. (Foto: Wasil Schauseil)

Im alten Lager am Rande von Samos’ Hauptstadt Vathy ist die Stimmung in den Tagen vor dem Umzug nach Zervou angespannt. Von Sicherheit im neuen Lager scheint niemand etwas wissen zu wollen, auch nicht von den vermeintlich besseren Lebensbedingungen. Die Angst vor der Isolation in den Bergen sowie der Wunsch, die Insel um jeden Preis zu verlassen, dominieren.

Es ist eine Angst, die durch fehlende Informationen in den vorherigen Monaten enorm gesteigert wurde. Daniela Steuermann, medizinische Koordinatorin von Ärzte ohne Grenzen auf Samos, berichtet, dass sich dadurch die psychische Verfassung von vielen ihrer Patienten erheblich verschlechtert habe: „Viele Patienten berichteten, sie wollen nicht ins „Gefängnis“, so nennen wir es auch unter uns. Die Menschen wollten da einfach nicht hin, denn es fühlt sich an wie die Endstation.“

Bessere Lebensbedingungen oder Gefahr der Retraumatisierung?

Nach dem Brand von Moria im September 2020 beauftragte die EU-Kommission eine Taskforce, die die künftige Einhaltung von EU-Standards in Geflüchtetenlagern sicherstellen sollte. Investigative Recherchen zeigen, dass sich die Taskforce, die griechische Regierung sowie andere EU-Agenturen und internationale Organisationen monatlich trafen, um die fünf Lager zu konzipieren. Unter ihnen war auch die EU-Agentur für Menschenrechte (FRA), die unter anderem den Verzicht auf „gefängnisähnliche Umzäunung“  und uniformiertes Personal anmahnte, „um das Risiko von Retraumatisierung von Menschen zu verhindern, die Gewalt und Verfolgung erlitten haben“. Während die Warnungen der FRA offenbar ignoriert wurden, betonen das griechische Migrationsministerium und Vertreter der EU-Kommission die guten und sicheren Lebensbedingungen im neuen Lager.

Laut Erasmia Roumana, Mitarbeiterin des Schutzprogrammes des UNHCR für die griechischen Inseln, sind die Bedingungen in Zervou im Vergleich zum alten Lager eindeutig besser. Doch für die Menschen ginge es um etwas anderes: „Es geht darum, sich nicht sicher zu fühlen, was in der Zukunft passieren wird. Es ist eine Ungewissheit in Bezug auf ihre Verfahren, die allgemeines Leid erzeugt.“

Probleme bei der Nationalisierung von UN-Programmen

Große Unsicherheiten wurden in Zervou und landesweit auch deswegen ausgelöst, weil Asylsuchende über mehrere Wochen keine finanzielle Unterstützung erhielten. Ursache hierfür sind Probleme bei der Übergabe des ESTIA-Programmes vom UNHCR an die griechische Regierung, durch das Asylsuchende eine monatliche Geldsumme und unter besonderen Umständen die Möglichkeit auf Wohnraum außerhalb der Lager erhalten. Während die Übergabe des Wohnungsprogramms im Sommer abgeschlossen wurde, stellte das UNHCR am 15. September 2021 auch seine finanziellen Leistungen ein. All das sollte von nun an von der griechischen Regierung fortgeführt werden. Bis Ende Oktober hatten jedoch um die 36.000 Menschen kein Geld von den griechischen Behörden erhalten, wie in einem offenen Brief von 26 zivilgesellschaftlichen Organisationen beklagt wird. Laut Migrationsministerium wird das Programm Anfang November wieder aufgenommen. In der Zwischenzeit ausgegebene Essensrationen gab es nur für Menschen, die sich noch im Asylverfahren befanden.

Und die Übergabe der UNHCR-Programme an die griechische Regierung brachte eine weitere Änderung mit sich: Der Anspruch auf finanzielle Unterstützung wurde an den Aufenthalt in einem der 36 landesweiten Lager geknüpft. Das ist Teil einer „Strategie der griechischen Autoritäten, nur einen einzigen Ort für die Unterbringung von Asylbewerbern zu haben“, erklärt Stella Nanou im UNHCR-Hauptquartier in Athen. Zu dieser Veränderung gehört auch der Beschluss der Regierung, das ESTIA-Wohnungsprogramm für Menschen mit besonderem Schutzbedürfnis auf allen Inseln zu beenden. Mit Kara Tepe und dem selbstorganisierten PIKBA wurden auf Lesbos auch die letzten beiden Unterkünfte außerhalb des großen Lagers von Mavrovouni („Moria 2.0“) geschlossen.

Oft abseits urbaner Zentren gelegen und mit schlechten Anbindungen an öffentliche Verkehrsmittel (beispielsweise in Ritsona oder Nea Kavala) werden auch die Lager auf dem Festland in den letzten Monaten vermehrt durch Zäune und Mauern befestigt, vielerorts organisiert von der Internationalen Organisation für Migration (IOM).

Zwischen Bäumen und Hügeln sieht man einige weiße Containerbauten.
Das alte Lager von Samos, am Rande der Inselhauptstadt Vathy. (Foto: Wasil Schauseil)

Nicht nur auf den Inseln, sondern auch auf dem Festland verfolgt die Regierung somit die Absicht, den Kontakt zwischen Geflüchteten und der Gesellschaft zu reduzieren. Neben den humanitären Problemen und Spannungen, die in großen und abgelegen Lagern aufkommen, werden dadurch die Chancen für Integration und Bildung stark eingeschränkt. Laut Stella Nanou drängt das UNHCR schon länger auf eine Diskussion über eine umfassende und langfristige Strategie für Integration und Inklusion von Geflüchteten. „Warum nicht versuchen, ihr Potenzial zu erkennen, anstatt sie als Belastung oder Bedrohung darzustellen?“ fragt sie, und deutet damit auf eine zunehmend restriktive Migrationspolitik der griechischen Regierung hin.

Abschreckung an den Außengrenzen und Einschränkung des Asylrechts

Der Ton und Umgang gegenüber Schutzsuchenden hat sich seit Regierungsübernahme durch die rechts-konservative Partei Neo Demokratia in Griechenland erheblich verschärft. Zu beobachten ist eine stetige Zunahme von erzwungenen Rückführungen („Pushbacks“) über die Land- und Seegrenzen. Neben dem Bruch des „Non-Refoulement-Gebots“ (Verbot der Zurückweisung in Länder, in denen Menschenrechtsverletzungen drohen) sind solche Rückführungen mit systematischen Misshandlungen und Erniedrigungen durch Sicherheitskräfte verbunden, die teilweise als Folter bezeichnet werden können. Wegen der hohen Zahl an illegalen Rückführungen sind die Zahlen des UNHCR über registrierte Ankünfte nicht akkurat und sollten mit Statistiken über verhinderte Ankünfte verglichen werden, wie sie zum Beispiel Aegean Boat Report veröffentlicht.

Im Juni erklärte die griechische Regierung die Türkei per Verordnung zum sicheren Drittstaat für Asylsuchende aus Afghanistan, Syrien, Somalia, Pakistan und Bangladesch. Die Hauptankunftsgruppen von Asylsuchenden in Griechenland können seitdem nur noch Asyl beantragen, wenn sie in einer Zulässigkeitsprüfung nachweisen können, dass die Türkei für sie nicht sicher ist. Wer dies nicht kann, wird aus dem Asylverfahren ausgeschlossen und muss dem Gesetz nach in die Türkei abgeschoben werden. Die Türkei hat sich jedoch nicht zur Rücknahme bereit erklärt, womit sich Betroffene in einem rechtlichen Limbo wiederfinden und ihnen in Griechenland bis zu 18 Monate Abschiebeverwahrung drohen. Das befürchtet auch Stella Nanou vom UNHCR und kritisiert, dass durch das neue Verfahren die eigentlichen Fluchtgründe ignoriert werden: „Wir sprechen über Länder, in denen es Menschenrechtsverletzungen gibt, in denen es Verfolgung gibt. Die Zulässigkeitsprüfungen gehen nicht auf das Wesentliche ein: Warum sind Sie aus Ihrem Land geflohen?“

Zahlreiche Organisationen, darunter das Legal Center Lesvos oder HumanRights360 teilen diese Kritik und bezweifeln zudem, ob die Türkei als sicher gelten sollte. Die Entscheidung droht das Recht auf Asyl in Europa auszuhöhlen, wobei das volle Ausmaß der Auswirkungen noch nicht abzusehen ist. Doch eines ist sicher: Wenn es um das Abschiebegewahrsam einer wachsenden Zahl von Menschen geht, die die Hürden des europäisch-griechischen Asylsystems nicht mehr erklimmen können, werden die neuen „geschlossen kontrollierten“ Lager sicherlich eine wesentliche Rolle spielen.

Wasil Schauseil

Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Recherchestipendiums der DGVN zum Thema „Herausforderung Mixed Migration“, finanziert mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).