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Debatte: Hypermaskulinität im Russland-Ukraine-Krieg

Auch Geschlechterstereotype spielen eine Rolle in zwischenstaatlichen Verhältnissen. Warum wir uns mit „Männlichen Staaten“ befassen müssen – und weshalb die Diskussion über mehr Wehrhaftigkeit uns nicht den Blick verstellen darf. Ein Meinungsbeitrag.

Wladimir Putin sitzt mit nacktem Oberkörper und Sonnenbrille entspannt zurückgelehnt vor einem See.
Ausdruck männlicher Macht? Der russische Präsident Wladimir Putin entspannt bei einem Jagdausflug in Sibirien, August 2017.

(Foto: Sputnik/Alexei Nikolsky/Kremlin)

Seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs ist viel von „Zeitenwende“ die Rede, vom Versagen der Diplomatie und dem Ende vertrauensvoller Beziehungen zu Russland. In dem Entsetzen darüber, dass der russische Präsident Putin einen Angriffskrieg gegen sein Nachbarland führt, ist der Reflex, nun die eigene „Wehrhaftigkeit“ stärken zu wollen, nachvollziehbar. Es wäre jedoch verfehlt, wenn wir in dieser Situation lediglich wieder in alte Denk- und Handlungsmuster von „Einflusssphären“, „Mächtegleichgewicht“ oder unregulierter militärischer Aufrüstung verfallen würden.

Wenn wir aus der jetzigen Situation Lehren für eine andere, friedlichere Zukunft ziehen wollen, dann ist auch ein Blick darauf notwendig, wie es so weit kommen konnte, dass die Ukraine und „der Westen“ nicht nur vom russischen Präsidenten Putin so geringgeschätzt werden, sondern diese Sichtweise auch von vielen innerhalb und außerhalb Russlands geteilt wird. Eine Antwort liegt in der Instrumentalisierung von Geschlechterstereotypen. Diesen liegt die Vorstellung eines binären Geschlechtersystems von „männlich“ und „weiblich“ zugrunde, die in einem hierarchischen Verhältnis zueinanderstehen. Gleichzeitig wird Heterosexualität als soziale Norm gesetzt und alle anderen Formen sexueller Orientierung oder sexueller Identität als „unnormal“ abgelehnt.

„Männliche Staaten“ in der internationalen Politik und der Krieg um die Ukraine

Der Gebrauch von Genderstereotypen zur Abwertung politischer Gegnerinnen und Gegner und zur Festigung des eigenen Machtanspruchs ist nicht neu. Besonders auffällige Beispiele für „hypermaskulines“ Auftreten liefern der ehemalige US-Präsident Donald Trump, Brasiliens Präsident Bolsonaro oder der türkische Präsident Erdogan. Aber auch im Kreis der EU-Staaten finden sich viele Beispiele für den Rückgriff auf Genderstereotypen in den Strategien politischer Parteien.

Wie Valerie Sperling bereits 2015 in ihrem vielbeachteten Buch „Sex, Politics and Putin” aufgezeigt hat, wurden heteronormative Konzepte von „traditioneller“ Männlichkeit und Weiblichkeit insbesondere in Russland unter Wladimir Putin über nunmehr zwei Jahrzehnte systematisch als Instrumente im Kampf um politische Legitimität eingesetzt. In diesem Kampf ging Putin als unumstrittener Führer eines wiedererstarkenden russischen Imperiums hervor. Diese Strategie, Gendernormen gezielt einzusetzen, um den eigenen Führungsanspruch zu untermauern und den politischen Gegner zu diffamieren, hat deshalb Erfolg, weil normative Vorstellungen von Geschlechterrollen gesellschaftlich breit akzeptiert sind. Vielfach werden diese auch religiös begründet, sei es unter Rückgriff auf „traditionelle“ christliche Werte (Katholische Kirche in Polen oder Russisch-Orthodoxe Kirche in Russland) oder auf islamische Werte (Türkei). In den letzten Jahren ging in den genannten Ländern damit ebenfalls eine Beschneidung der Rechte von Frauen und/oder sexueller Minderheiten (LGBTQI*) einher.

Feministische Forschende haben insbesondere seit den 1990er-Jahren herausgearbeitet, wie stark die internationale Politik von Hierarchien und einer Dominanz von Werten und Verhaltensweisen geprägt ist, die als „männlich“ gelten. In Russland unter Wladimir Putins langjähriger Regentschaft gehen sehr spezifische Männlichkeitsvorstellungen mit Vorstellungen über die eigene Nation einher. Wie einige Forschende argumentieren, verstanden sich russische Bürgerinnen und Bürger in den letzten Jahren zunehmend nicht mehr als Teil Europas, sondern als einzigartige eurasische Zivilisation, die der degenerierten europäischen Zivilisation des „Gayropa“ überlegen ist. Der „dekadente Westen” wird dabei beschuldigt, über die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen, aufgrund des Einflusses feministischer Bewegungen und durch die Abschaffung traditioneller Familien die „normale“ Geschlechterordnung zu zerstören.

Diese Degeneration wird von zahlreichen politischen Kommentatorinnen und Kommentatoren in Russland auch als nahezu integraler Bestandteil einer Entwicklung hin zu westlich geprägten liberalen Demokratien angesehen. Insofern verwundert es nicht, dass die ukrainische Demokratiebewegung, die sich mit den Protesten auf dem Maidan ab Ende 2013 formierte, von russischer Seite als Gefahr für die „russische Identität“ der Ukraine angesehen wurde. Damit wurde bereits 2014 die Annexion der Krim sowie seither auch die Unterstützung der Separatistenbewegungen in der Ost-Ukraine begründet. Der Macho-Kult um Putin ist Bestandteil und Ausfluss einer hypermaskulin konnotierten nationalen russischen Identität.

Der Abbau von (Geschlechter-) Ungerechtigkeiten als Ziel feministischer Politik

Wie kann Politik und damit auch Außenpolitik auf diese Wirkmächtigkeit von Geschlechterstereotypen reagieren? Die Friedens- und Konfliktforschung zeigt: Gewaltprävention verlangt den Abbau von Ungleichheiten und damit einhergehenden Ungerechtigkeiten. Ungleichheiten speisen sich stark aus tief verankerten Machtgefällen auf politischer, sozialer, rechtlicher und ökonomischer Ebene. Insbesondere feministische Ansätze thematisieren diese Machtgefälle, die sich aus Unterscheidungen aufgrund von Geschlecht, Sexualität, Religion, Herkunft oder Nationalität ergeben.

Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine zeigt, wie notwendig es ist, neue außen- und sicherheitspolitische Ansätze zu entwickeln und umzusetzen. Die Rückkehr zu einer Mächtepolitik des 19. Jahrhunderts oder gar der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist nicht der Garant dafür, Frieden dauerhaft zu sichern und Konflikte gewaltfrei zu lösen. Dass wir in der Lage sein müssen, kriegerischen Aggressionen wirksam zu begegnen, ist relativ unumstritten. Aber aufgrund des hohen Blutzolls, der damit verbunden ist, können die Instrumente dafür nicht nur und nicht vorrangig militärische sein.

Wir sollten daher den Mut haben, uns auf neue Konzepte und einen damit verbundenen Perspektivwechsel einzulassen. Feministische Außenpolitik kann dies mit dem Fokus auf soziale Gerechtigkeit und Geschlechtergleichheit ermöglichen. Damit erweitern wir unseren Blick auf die gesellschaftlichen Machtungleichgewichte. Die Rechte von Frauen und deren Repräsentation in politischen (Entscheidungs-) Prozessen zu stärken, ist Ziel feministischer Außenpolitik, ebenso wie deren Zugang zu Ressourcen zu verbessern und deren Lebensrealitäten in den Mittelpunkt politischer Problemlösungen zu stellen.

Mit Blick auf gewaltsam ausgetragene Konflikte reicht es allerdings nicht, nur aufzuzeigen, wie als typisch „männlich“ apostrophierte Verhaltensweisen dazu führen, dass Gewalt als Mittel zwischenmenschlicher oder zwischenstaatlicher Interaktion akzeptiert wird. Es gilt, darauf hinzuarbeiten, dass Geschlechterstereotype nicht ständig reproduziert werden – wie durch die Stilisierung von Frauen als „Opfer“, wozu die derzeitige Berichterstattung über die Fluchtbewegungen aus der Ukraine geradezu einlädt. Letztendlich muss es darum gehen, das Denken und Bewerten in binären Kategorien von „männlich“ und „weiblich“ zu überwinden und die patriarchalischen Strukturen zu hinterfragen, die hierarchische Beziehungen nicht nur zwischen Geschlechtern, sondern auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Staaten festschreiben.

Von Dr. Cornelia Ulbert, Wissenschaftliche Geschäftsführerin am Institut für Entwicklung und Frieden, Universität Duisburg-Essen, Koordinatorin des Forschungsrats der DGVN.

Hinweis: Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung von „Männliche Staaten“: Was Hypermaskulinität mit dem Ukraine-Krieg zu tun hat, erschienen am 18. März 2022 auf dem Development and Peace-Blog der Universität Duisburg-Essen.

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