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30 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda: Lehren für die Weltgemeinschaft

Vor 30 Jahren kam es in Ruanda zu einem brutalen Völkermord, dem bis zu 800 000 Menschen zum Opfer fielen. Warum konnte dies nicht verhindert werden und welche Lehren ergeben sich bis heute für die internationale Gemeinschaft?

Zeltlager für Flüchtlinge aus Ruanda
Ruandische Flüchtlinge haben 1994 wegen einer Choleraepidemie in der Stadt Goma Lager außerhalb der Stadt eingerichtet (UN Photo/John Isaac)

Am 7. April 1994 begann im ostafrikanischen Ruanda einer der blutigsten Völkermorde nach dem Zweiten Weltkrieg. Innerhalb von knapp 100 Tagen wurden bis zu 800.000 Menschen ermordet, darunter vor allem Angehörige der ethnischen Minderheit der Tutsi. Etwa drei Millionen Menschen wurden innerhalb Ruandas vertrieben oder mussten vor der Gewalt in Nachbarländer fliehen.

Das Erbe der damals wie heute unbegreiflichen Gewalt verursacht bis in die Gegenwart anhaltende Konflikte, deren Aufarbeitung eine wichtige Aufgabe nicht nur für die ruandische Gesellschaft, sondern auch für die internationale Gemeinschaft bleibt. Aus heutiger Sicht ist klar, dass Warnzeichen und Belege für einen drohenden Völkermord bereits seit Anfang der 1990er Jahren bekannt waren, aber von den entscheidenden Stellen nicht ernst genommen wurden. Trotz der späteren Verurteilung vieler Täter durch den UN-Sondergerichtshof für Ruanda, der auch als Mechanismus der Aufarbeitung und Versöhnung dienen sollte, wirkt das kollektive Trauma fort.

Kurzer Rückblick: Ursachen und Auslöser des Völkermords

Wer die Ursachen des Völkermords in Ruanda verstehen möchte, muss weit in die Geschichte zurückgehen. Denn der Eskalation der Gewalt ging eine lange Geschichte der rassistischen Entmenschlichung voraus, die ihre Wurzeln schon in der europäischen Kolonialherrschaft in Ruanda hat. So spielten die deutsche (1884 - 1916) und später die belgische Kolonialmacht (1916 - 1962) eine maßgebliche Rolle dabei, einen rassistisch-hergeleiteten Gegensatz zwischen der Mehrheit der Hutu und der Minderheit der Tutsi zu etablieren und letztere zu einer Elite der indirekten, kolonialen Herrschaft aufzubauen. Als Reaktion entwickelte sich eine starke Hutu-Nationalbewegung, die sich gegen ihre Unterdrückung wehrte und seit der Unabhängigkeit 1962 das Land autoritär regierte.

Der Machtkampf zwischen Hutu und Tutsi führte zu Massakern und Pogromen auf beiden Seiten, aber insbesondere gegen die Tutsi, die in den 1950er und 1960er-Jahren zunehmend in die benachbarten Länder flohen. Die schwelenden Probleme, die sich daraus ergaben, wurden damals von der Welt kaum beachtet und bereiteten den Boden für eine Eskalation der Gewalt. So organisierte die Tutsi-geführte Ruandische Patriotische Front (RPF) ab den späten 1980er-Jahren aus Uganda heraus Angriffe gegen die Hutu. Der damalige Anführer der RPF, Paul Kagame, ist der heute amtierende Präsident Ruandas.

Den eskalierenden Bürgerkrieg nutzten die Vertreter eines aggressiven Hutu-Nationalismus aus, um ab 1990 mit den „Zehn Geboten der Hutu“ und der rassistischen Zeitung Kangura offen zur Gewalt gegen die als „Verräter“ und „Volksfeinde Ruandas“ bezeichneten Tutsi aufzurufen. Nach erbitterten Kämpfen sah sich die Hutu-Regierung 1993 zu dem Arusha-Abkommen gezwungen. Einer Blauhelm-Mission der Vereinten Nationen (UNAMIR) wurde vom Sicherheitsrat die Aufgabe übertragen, den Übergang zu einer zwischen Tutsi und Hutu geteilten Regierung zu überwachen.

UNAMIR war von Beginn an unterfinanziert und durch ein eng gefasstes Mandat in seinen Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Warnungen von Menschenrechtsorganisationen und Beobachtern vor Ort, dass ein Hutu-geführter Staatsstreich geplant sei und Indizien für detaillierte Pläne für einen Völkermord an den Tutsi vorlagen, wurden auf höchster UN-Ebene sowie von den mächtigen Staaten des UN-Sicherheitsrates ignoriert.

Als am 6. April 1994 das Flugzeug des noch amtierenden Hutu-Präsidenten Habyarimana abgeschossen wurde, begann die Hutu-Präsidialgarde am 7. April mit der gezielten Ermordung politischer Gegner. In den folgenden drei Monaten sahen die Weltöffentlichkeit und Blauhelm-Soldaten machtlos dabei zu, wie Hunderttausende Tutsi von bewaffneten Hutu-Gruppen und der aufgestachelten Bevölkerung ermordet wurden. Erst der militärische Sieg der RPF im Juni 1994 beendete die Gewaltexzesse.

Lehren für die UN und die internationale Gemeinschaft

Ein 1996 von zahlreichen internationalen Organisationen in Auftrag gegebener Bericht über die damaligen Versäumnisse der internationalen Gemeinschaft liest sich auch heute noch aktuell. So sei das Versagen bei der Verhinderung des Völkermords nicht auf fehlende Informationen zurückzuführen, sondern im Wesentlichen auf Nachlässigkeit. Dies zeigte sich beispielsweise in einem Herunterspielen der lauter werdenden Warnungen durch Politik und Medien sowie im Desinteresse der Sicherheitsratsmächte, mit Entschiedenheit zu intervenieren. Der Bericht hält fest, dass bei der Relativierung der Gewalt auch ein mangelndes Verständnis von Völkermord als Rechtsbegriff eine Rolle spielte, der sich bereits auf die Absicht und den Verlauf bezieht, nicht erst auf den fait accompli. Da in solchen Fällen in der Regel die Zeit drängt, mahnt der Bericht, sei ein internationales und unabhängiges System zur schnellen Feststellung sowie ein schnelles Vorgehen dringend erforderlich.

Weiterhin warnt der Bericht, dass Fluchtbewegungen häufig eskalierende Konflikte hervorrufen, wenn Flüchtlinge und die betroffenen Staaten nicht dabei unterstützt werden, nachhaltige und gerechte Lösungen zu entwickeln. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) war angesichts des Ausmaßes der Probleme und seiner Unterfinanzierung nicht in der Lage, den schwelenden Problemen im Vorfeld des Völkermords Einhalt zu gebieten. Die offenbare Hilflosigkeit der UN-Blauhelme bestärkte zudem Forderungen, künftige Einsätze mit einem „robusten“ Mandat auszustatten, um den Schutz der Zivilbevölkerung mit ausreichenden militärischen Kapazitäten und Entscheidungsspielraum durchsetzen zu können.

Die Grenzen der Aufarbeitung und Warnzeichen der Gegenwart

Der weltweite Schock angesichts des Völkermords führte Ende 1994 zu Etablierung des internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (International Criminal Tribunal for Rwanda - ICTR). Zusammen mit dem 1993 etablierten Jugoslawien-Tribunal war das ICTR seit den 1940er-Jahren das erste internationale Gericht mit dem Auftrag der Verfolgung von Kriegsverbrechern. Es war zudem das erste Gericht, welches Täter explizit wegen Völkermord verurteilte, 62 Personen wurden verurteilt. Allerdings gibt es Vorwürfe, dass der ICTR unter der autoritären Regierung Kagames Teil einer „Siegerjustiz“ war, welche die Gewalttaten von Tutsi verschwieg und seinem Auftrag der Versöhnung damit nur unzureichend nachkam. Lokale Initiativen zur Versöhnung ehemaliger Opfer und Täter geben indes Hoffnung, dass die Ruandische Gesellschaft auch außerhalb der Justiz nach Wegen zu einer friedlicheren Zukunft sucht.

Von einer wirklichen Aufarbeitung der Verbrechen kann bis heute nicht gesprochen werden. Trotz der anhaltenden Strafverfolgung auch durch nationale Gerichte, welche bis 2012 Hunderttausende Prozesse führten, wird nach 1149 mutmaßlichen Tätern weiterhin weltweit gefahndet, 143 von ihnen werden in Europa vermutet. Derweil kommt es in letzter Zeit vermehrt zu rassistischer Gewalt gegen Tutsi in der benachbarten Demokratischen Republik Kongo. Beobachter sehen sich an Dynamiken der 1990er erinnert und warnen vor der Gefahr eines wiederholten Genozids. Hintergrund sind anhaltende Konflikte um Rohstoffe in der ostkongolesischen Grenzregion zu Ruanda, wo die Tutsi-Rebellengruppe M23 – mit Unterstützung des ruandischen Präsidenten – in bewaffnete Kämpfe mit kongolesischen Milizen und der Armee verwickelt ist. Soll sich die Geschichte nicht wiederholen, liegt es an der internationalen Gemeinschaft die heutigen Warnungen ernst zu nehmen und eine aktive Friedensdiplomatie zu verfolgen.

Wasil Schauseil