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Aus den Augen, aus dem Sinn? Der informelle Sektor in der Corona-Pandemie

60 Prozent der Beschäftigten weltweit sind im informellen Sektor tätig, so Daten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) – und damit auch häufig nicht in die Sozialsysteme eingebunden. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie zwingen zum Umdenken über moderne Arbeit.

Ein Mann steht in Kuba an seinem Obststand an der Straße.
Straßenverkäufer wie hier in Kuba sind oft wichtiger Teil der Nahrungsversorgung, dabei aber häufig nicht registriert.

(Foto: Chris Goldberg/flickr/CC BY-NC 2.0Market Man)

Die nachbarschaftliche Babysitterin, der auf Honorarbasis arbeitende Student, die unregistrierte Haushaltshilfe und der Tagelöhner gehören alle dem informellen Sektor an. Denn sie alle sind in keinem festen oder sozialversicherten Anstellungsverhältnis. Informalität beschreibt nicht die eine, bestimmte Arbeitsrealität, sondern umfasst ein breites Kontinuum und dementsprechend auch eine Vielzahl an Arbeits- und Lebensumständen.


In den 1950er und 60er Jahren bestand noch die Annahme, dass der informelle Sektor, zu dieser Zeit noch als der traditionelle bezeichnet, durch die schrittweise Integration der Entwicklungsstaaten in den globalen Markt formalisiert würde. Der größere Bedarf an Arbeitskräften im formellen Sektor würde die zuvor informell Arbeitenden absorbieren. In den 1970ern widerspricht Hans Singer dem, da die zunehmende Technologisierung von Arbeitsprozessen und gleichzeitigem Bevölkerungswachstum tatsächlich zu einem Anstieg informeller Arbeit beitrügen. Davon inspiriert beauftragt die ILO Untersuchungen in einer Reihe von Entwicklungsländern, die zu dem Schluss kommen, der informelle Sektor sei als konstruktive wirtschaftliche Kraft zu bewerten, denn er habe das Potential autonom Kapital und Beschäftigung zu schaffen und Armut zu reduzieren.
 

„Menschenwürdige Arbeit für alle“, Teil der SDGs

Mit dem achten Ziel der „menschenwürdigen Arbeit für alle“ haben die UN 2015 die Bekämpfung informeller Arbeit in die Ziele für nachhaltige Entwicklung („Sustainable Development Goals“, SDG) aufgenommen. 2018 erklären sie, dass 61 Prozent der weltweit Arbeitenden  und damit ca. zwei Milliarden Menschen  im informellen Sektor arbeiten. Hervorzuheben ist neben der schieren Größe des Sektors auch seine bedeutende, in den formalisierten Wirtschaftsablauf eingebettete Leistung. Diese besteht einerseits in der Produktivität der Arbeit von unangemeldeten Beschäftigten weltweit, besonders in der Landwirtschaft und Textilindustrie. Andererseits ersetzt der informelle Sektor mancherorts Aufgaben, denen der Staat nicht nachkommt, zum Beispiel durch bestimmte Leistungen wie die Übernahme von Abfallmanagement oder generell die wirtschaftliche Versorgung formell Arbeitsloser. Hinzu kommen jene Gewerbe, die nie aus früheren, traditionellen Strukturen in die heutigen übernommen wurden und somit keine Möglichkeit zur formellen Registrierung haben, wie die in vielen Ländern für die Nahrungsversorgung essenziellen Straßenverkäuferinnen und -verkäufer.

Durch wirtschaftliche Aktivität im informellen Sektor entgehen dem Staat aber auch Steuereinnahmen, was einer der Gründe dafür ist, dass unter anderem die Weltbank und die ILO dafür argumentieren, den informellen Sektor zu bekämpfen und gleichzeitig den Eintritt in den formellen attraktiver zu gestalten. Hierdurch – so die Annahme – werden nicht nur die Taschen des Staates gefüllt, sondern auch den Arbeitenden mehr soziale Sicherheit, Arbeitsrechte und politische Repräsentation geboten. Kritikerinnen und Kritiker des Ansatzes der Formalisierung argumentieren, es sei riskant gerade kleine Unternehmen zur Formalisierung zu drängen, da eine Besteuerung deren Existenz gefährde und dadurch zum Beispiel das Angebot günstiger Produkte, das für die Versorgung von armen Bevölkerungsteilen notwendig ist, eingeschränkt würde.
 

Corona-Pandemie wird informellen Sektor wachsen lassen

Während die Coronapandemie die Lebensgrundlage vieler Menschen bedroht, sind diejenigen im informellen Sektor ganz besonders betroffen. Vorhandene Angebote der sozialen Absicherung schließen vielen nicht ein. Maßnahmen wie Steuersenkungen, die zur Stabilisierung der Wirtschaft ergriffen wurden, helfen Unternehmen im informellen Sektor nicht. Direkte Bargeldauszahlungen an bedürftige Haushalte erreichen zwar auch im informellen Sektor Beschäftigte, dies jedoch nur teilweise. Denn in vielerorts fehlen schlicht ausreichende Daten dazu, wo und wie viele Haushalte von informeller Arbeit leben. Und zusätzlich sind viele, besonders Geringverdienende, dazu gezwungen weiter zu arbeiten, um ihre Lebensgrundlage zu erhalten und sind dabei besonderem Infektionsrisiko und gleichzeitig mangelnder Gesundheitsversorgung ausgesetzt.

Mit Blick in die Zukunft und auf den Prozess der wirtschaftlichen Erholung von der Pandemie wird ein weiterer Anstieg von informeller Arbeit angenommen: Die zu erwartenden Einsparungen im formellen Sektor werden Arbeitslosenzahlen erhöhen und dort, wo es an Sozialabsicherung mangelt, Menschen dazu zwingen, informelle und prekäre Arbeitsverhältnisse einzugehen.
 

Autonomie des informellen Sektors erodiert

Der informelle Sektor ist meist außerhalb der Reichweite des Staates. Es gibt selten umfassende Daten zu den Aktivitäten in diesem Bereich und in vielen Staaten herrscht eine stille Akzeptanz, da die wirtschaftliche und soziale Leistung dieses Sektors das Unvermögen des Staates ausgleicht. Durch die Corona-Pandemie könnte sich das ändern: Die Eigenständigkeit des informellen Sektors ist durch die Schließung des öffentlichen Lebens – zumindest teilweise – zerstört worden und viele Regierungen haben Maßnahmen ergriffen, um auch informell Arbeitende zu erreichen. Dieser erzwungene Berührungspunkt, der sich zum Beispiel in Bargeldauszahlungen ausdrückt, könnte genutzt werden, um verlässlichere Daten zu erheben. Wissen über die Größe des Sektors würde den Forderungen von Organen, welche die Interessen der im informellen Sektor Arbeitenden vertreten könnten, Gewicht verleihen.

Eine absehbare weitere Verschiebung von formeller zu informeller Arbeit sollte eine Diskussion darüber anregen, die Definition von moderner Arbeit anzupassen und somit alternative Wege schaffen, den informellen Sektor als den Teil des modernen Wirtschaftssystems, der er ist, anzuerkennen. Denn hierbei geht es nicht darum Steuerhinterziehung oder Schwarzarbeit zu rechtfertigen, sondern notwendiger wirtschaftlicher Aktivität, die nicht durch bestehende Kategorien erfasst wird, die Möglichkeit der Absicherung zu geben.

Deshalb ist es wichtig, dass Institutionen wie die ILO oder auch die Agenda 2030 ihren Fokus auf Formalisierung informeller Arbeit überdenken und alternative Modelle der Einbindung des informellen Sektors entwerfen, um Staaten bei diesem Transformationsprozess helfen zu können.
 

Tonja Klausmann

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