Deutschland als Vorreiter für die ökologische Transformation? Ruf nach integrativer Umweltpolitik
Alle vier Jahre erscheint das Umweltgutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU), in dem ein breiter Überblick über die aktuelle Umweltsituation und Umweltpolitik geboten wird. Der Rat ist mit sieben Professorinnen und Professoren jeweils unterschiedlicher fachlicher Ausrichtung interdisziplinär aufgestellt und wird von der Bundesregierung für jeweils vier Jahre benannt, um diese zu beraten. Nach dem UN-Gipfeljahr 2015 mit der Addis Abeba Action Agenda, der neuen Agenda 2030 und dem Pariser Klimaabkommen müssen Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen in der deutschen Politik zunehmend in den Fokus rücken – auch weil viele Staaten in der UN im Umsetzungsprozess auf das Ambitionsniveau in Deutschland schauen.
Vor diesem Kontext wurde nun am 10. Mai in Berlin das SRU-Umweltgutachten 2016 an Umweltministerin Dr. Barbara Hendricks übergeben und in einer mehrstündigen Veranstaltung mit anschließender Panel-Diskussion der Öffentlichkeit präsentiert. Unter dem Titel „Impulse für eine integrative Umweltpolitik“ beleuchtet das Gutachten in ausgewählten Schwerpunktthemen potentielle Zielkonflikte einer ambitionierten Umweltpolitik und formuliert diesbezüglich Impulse für umweltorientierte Reform- und Gestaltungsansätze.
Es braucht eine ökologische Transformation
Die aktuelle Umweltpolitik in Deutschland ist mit großen Widerständen konfrontiert, die sich beispielsweise auf vermeintlich unnötige regulatorische Belastungen zu Lasten der industriellen Wettbewerbsfähigkeit oder soziale Fragen von Wohnungsnot oder Energiearmut beziehen.
Diese sogenannten Zielkonflikte müssten entschärft werden, so das Gutachten, damit die dringend notwendige ökologische Transformation erfolgen kann. Es brauche daher eine integrative Umweltpolitik, die das Spannungsfeld zwischen umweltpolitischen und wirtschafts- und sozialpolitischen Zielsetzungen reflektiert und aufgreift.
Der Ruf des Gutachtens nach einer ökologischen Transformation ist nicht losgelöst von den Prozessen auf internationaler Ebene zu betrachten. Sowohl die „2030 Agenda“ mit ihren Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) als auch das Pariser Klimaabkommen erkennen explizit an, dass die Belastungsfähigkeit des Erdsystems begrenzt ist und bestimmte Wachstumstrends nicht fortgesetzt werden können.
Die aktuellen sozioökonomischen Wachstumstrends sind in ihrem Einfluss mittlerweile jedoch so stark, dass Wissenschaftler sich mit der Frage beschäftigen, ob wir uns nicht bereits in einer neuen geologischen Epoche, dem Anthropozän, befinden. Um diese Dynamik zu durchbrechen, brauche es deshalb tiefgreifende Veränderungen, folgert auch das Gutachten:
„Eine solche transformative Vision wird durch technische Innovation allein nicht erreichbar sein, sie wird durch gesellschaftlichen Wertewandel, neue Konsumstile, einen tiefgreifenden Strukturwandel von Industrie und Infrastrukturen und von neuen Institutionen und Regulierungsformen begleitet sein müssen.“
SRU-Umweltgutachten 2016: 19
Deutschland als Vorreiter der Transformation
Das Gutachten des SRU spricht Deutschland im Prozess einer globalen Transformation eine besondere Rolle zu, denn globale Umweltpolitik brauche nationale Vorreiter, das zeige auch die Vergangenheit. Vorreiter könnten die internationale Wahrnehmung von Themen schärfen, Problemlösungen aufzeigen und diese aktiv in die internationalen Verhandlungsprozesse einbringen. Ohne diese Vorreiter, sei eine dynamische internationale Umweltpolitik nicht zu erwarten. Eine glaubwürdige internationale Verhandlungsposition setzt aber auch eine ambitionierte nationale Politik voraus.
Dieser Einschätzung liegt die Annahme zugrunde, dass der tiefgreifende technische, gesellschaftliche und institutionelle Wandel besondere Ansprüche an staatliche Akteure stellt. Dieser Wandel erstreckt sich auf viele Handlungsfelder und ist damit nur schwer zentral steuerbar, bedarf aber besonderer Koordination. Beispiele für einen solchen systemischen Wandel sind etwa die Energiewende, die mit einem Ausstieg aus fossilen Energieträgern hin zur Nutzung erneuerbarer Energiesysteme verbunden ist, aber auch die Kreislaufführung wichtiger Ressourcen, die Flächenschonung oder eine naturverträgliche Landwirtschaft und Ernährungsweise.
Nach Auffassung des SRU sprechen folgende Gründe für eine Vorreiterrolle Deutschlands:
- Verantwortung: Deutschland steht aufgrund internationaler Verflechtungen besonders in der Verantwortung, da es erheblich auf natürliche Ressourcen anderer Länder zurückgreift.
- Wirtschaftlicher Treiber: Durch die Verbreitung energie- und ressourceneffizienter Technologien und Systemlösungen können internationale Zukunftsmärkte geschaffen werden.
- Voraussetzungen: Deutschland erfüllt mit einem starken Innovationssystem, großer Wirtschaftskraft und relativ breiter gesellschaftlicher Unterstützung für aktive Umweltpolitik sehr gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Vorreiterrolle.
- Synergie-Effekte: Eine Vorreiterpolitik bringt nicht nur global, sondern auch national und lokal vielfältigen Nutzen, so führen z.B. Klimaschutzmaßnahmen auch zu einer Verbesserung der lokalen Luftqualität.
In einigen Handlungsfeldern spricht das Gutachten Deutschland bereits eine fortgeschrittene Vorreiterrolle zu – insbesondere die deutsche Energiewende wird als besonderer Vorreiterprozess eingeordnet. In vielen Bereichen bestehe aber noch Handlungsbedarf, wie beispielsweise bei der Agrarpolitik oder einer zu schaffenden Kreislaufwirtschaft, die tatsächlich keinen Abfall mehr produziert und damit weit über das deutsche Recycling-System hinausgehen müsste.
Hierfür brauche es einen breiten gesellschaftlichen Konsens, der zurzeit in vielen Bereichen noch nicht besteht.
Zielkonflikte ambitionierter Umweltpolitik
Die bereits angesprochene Entschärfung von Zielkonflikten spiele deshalb eine wichtige Rolle. An den Ruf nach einer deutschen Vorreiterpolitik anschließend widmet sich das Gutachten daher exemplarisch in fünf weiteren Kapiteln existierenden Spannungsfeldern ambitionierter Umweltpolitik und entwickelt Lösungsstrategien:
- Anspruchsvoller Klimaschutz und industrielle Wettbewerbsfähigkeit
- Umwelt und Sozialpolitik im Kontext der Energiewende
- Flächenverbrauch und demografischer Wandel
- Mehr Raum für Wildnis in Deutschland
- Besserer Schutz der Biodiversität vor Pestiziden
Erfolgreiche nationale und internationale Politik für eine ökologische Transformation
Das SRU setzt mit seinem Umweltgutachten Impulse für die deutsche Umweltpolitik, die eine ökologische Transformation in Deutschland ermöglichen sollen und – über eine aktive Vorreiterpolitik – auch internationale Transformationsprozesse antreiben können. Ein Bekenntnis zur Notwendigkeit tiefgreifender systemischer Veränderungen gibt es bereits sowohl auf nationaler, als auch auf internationaler Ebene. So haben die Vereinten Nationen letztes Jahr unter dem Motto „Transformation unserer Welt“ die neue Nachhaltigkeitsagenda beschlossen. Die Agenda 2030 zeigt auf, dass alle Länder weltweit ihren Beitrag leisten müssen, auch Deutschland.
Daher ist wichtig – und dass fordert auch das Gutachten –, dass das Bekenntnis zu tiefgreifender Transformation keine Rhetorik bleibt, sondern aktive Politik wird. Wie der SRU aufzeigt, hat Deutschland die Möglichkeit progressive Pfade zu bauen und als Vorreiter aktiv auch zu einem Gelingen einer internationalen ökologischen Transformation beizutragen. Die erfolgreiche Umsetzung der Agenda 2030 sowie des Pariser Klimaabkommens werden maßgeblich hiervon abhängen.
Helen Sharp