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Schutzlos ausgeliefert- Kinder und Frauen auf der Flucht

Ein neuer Bericht des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) veranschaulicht beispielhaft die Schutzlosigkeit von Kindern und Frauen auf der Flucht. Nach Schätzungen von UNICEF werden allein auf der Flucht- und Migrationsroute aus der Subsahara über Libyen nach Europa drei Viertel aller flüchtenden Kinder Opfer von Gewalt, Bedrohungen oder Aggressionen durch Erwachsene. Fast die Hälfte aller Frauen auf dieser Route wird Opfer von sexualisierter Gewalt oder sexuellem Missbrauch. UNICEF warnt, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegen könnte.

Zwei Kinder und ein Säugling befinden sich in einem geziegelten Unterkunft und schauen in die Kamera
Eine gemauerte Unterkunft des UNHCR in Erbil im Irak bietet vertriebenen Familien mit ihren Kindern Sicherheit und Obdach, 2011. (UN Photo/Bikem Ekberzade)

Weltweit sind nach Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) rund 65 Millionen Kinder auf der Flucht vor Konflikten, Armut oder Klimawandel. Sie sind auf der Suche nach einem besseren Leben oder einem Zuhause und sie zählen zu den schutzbedürftigsten Gruppen. Ob in Syrien, dem Irak oder den Flucht- und Migrationsrouten Mittelamerikas, Kinder auf der Flucht werden Opfer von Gewalt, Ausbeutung und Misshandlungen. Ein neuer UNICEF-Bericht beleuchtet nun die Schutzlosigkeit von Kindern und Frauen auf der Flucht entlang der zentralen Mittelmeerroute.

Der UNICEF-Bericht „A Deadly Journey for Children“ (Februar 2017) basiert auf einer Befragung von 122 Frauen und Kindern aus elf Staaten der Subsahara und Nordafrikas, die zumeist über die zentrale Mittelmeerroute, also Libyen, planten nach Europa zu fliehen und Asyl zu suchen. UNICEF betont, dass die Erkenntnisse der Studie die jahrelangen Berichte und Erfahrungen des Personals der Vereinten Nationen vor Ort und auch die von Mitarbeiter*innen zahlreicher Nichtregierungsorganisationen (NGOs) widerspiegeln.

Der Bericht verdeutlicht die Zahlen derer, die schutzlos Gewalt und Missbrauch ausgesetzt sind. Von den geschätzten 256.000 Migrant*innen, die sich gegenwärtig allein in Libyen aufhalten, sind elf Prozent Frauen und weitere neun Prozent Kinder (Stand: September 2016). Das entspricht ca. 28.000 Frauen und ca. 23.000 Kinder. Unter den Kindern befinden sich rund 8.000 unbegleitete Minderjährige. Das Kinderhilfswerk geht jedoch davon aus, dass die tatsächliche Dunkelziffer dreimal höher liegt. Im Jahr 2016 waren 16 Prozent aller in Italien ankommenden Geflüchteten und Migrant*innen Kinder, neun von zehn Kindern waren unbegleitet (92%). 700 der geschätzten 4.500 Ertrunkenen zwischen Libyen und Italien waren Kinder.

Hinter einem sehr feinmaschigen gitteratigen Fenster steht eine große Gruppe von Frauen und schaut nach draußen.
Besonders in libyischen Aufnahmeeinrichtungen werden Kinder und Migrant*innen Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Hier ein Lager für Frauen in Surnam, Libyen 2015. (Foto: Mathieu Galtier/IRIN)

Der Bericht identifiziert insbesondere die tausend Kilometer lange Strecke aus dem Süden Libyens bis an die Küste des fragilen Staates sowie die Überquerung des Mittelmeeres als die gefährlichste Passage der Migrations- und Fluchtroute. Hier kommt es laut UNICEF zu den gravierendsten Menschenrechtsverletzungen. Auf der gesamten Route erleiden drei Viertel der Kinder Gewalt, Bedrohungen und Aggressionen durch Erwachsene. Die meisten von ihnen berichten von verbalem oder emotionalem Missbrauch. Rund die Hälfte erlitt Schläge oder andere Formen physischer Gewalt, Mädchen zumeist öfter als Jungen. Rund die Hälfte aller Migrantinnen wird auf der Fluchtroute Opfer sexualisierter Gewalt oder Missbrauch, oft mehrfach. Befragte Migrantinnen gaben an, diese Gewalt als Dienstleistung für eine Weiterreise erdulden zu müssen. Sie gehe in vielen Fällen von militärisch- oder paramilitärisch erscheinenden, libyschen Einheiten aus. Zusätzlich sind Frauen und Kinder während ihrer Flucht meist völlig auf Schmuggler*innen angewiesen. Diese Abhängigkeit führt in vielen Fällen nicht nur zu Missbrauch, sondern auch zu Freiheitsberaubung und befördert Menschenhandel.

Menschenunwürdige Verhältnisse und Unterbringung in Libyen

Weder auf der Route selbst, noch in den staatlichen libyschen Aufnahmeeinrichtungen entsprechen die Verhältnisse einem adäquaten Lebensstandard. Frauen und Kinder berichten von massiv überfüllten Aufnahmeneinrichtungen, einem Mangel an Nahrungsmitteln, sauberem Wasser und Sanitäreinrichtungen. Zusätzlich fehlt der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und einem wirksamen Rechtsbehelf. Alleinreisende Kinder werden in diesen Einrichtungen meist nicht getrennt von Erwachsenen untergebracht und erhalten somit, trotz ihrer erhöhten Schutzbedürftigkeit, keine Sonderbehandlung. In den meisten Fällen werden auch Frauen zusammen mit Männern untergebracht. In Folge dessen kommt es auch in den staatlichen Einrichtungen zu sexualisierter Gewalt und Missbrauch.

Noch weitaus schlimmere Zustände finden sich laut UNICEF in den von libyschen Milizen kontrollierten Aufnahmeeinrichtungen. Dort kommt es neben den erwähnten Formen des Missbrauchs an Kindern und Frauen auch zu Zwangsarbeit und extremer Gewalt sowie organisiertem Menschenhandel. Diese Einschätzung des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen beruht weitestgehend auf Berichten des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) sowie der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen (UNSMIL). In einem Bericht der UNSMIL vom Dezember 2016 wird die Situation von Migrant*innen in Libyen als eine regelrechte Menschenrechtskrise bezeichnet. Der Bericht verweist außerdem auf Fälle von Folter und anderer grausamer oder unmenschlicher Behandlung, außergerichtlichen Hinrichtungen und willkürlichen Verhaftungen von Migrant*innen. Hieran beteiligt sind neben staatlichen Stellen auch Milizen und terroristische Gruppierungen.

Zwei junge Mädchen in Nahaufnahme lächeln und lachen in die Kamera
Kinderrechte gelten gleichermaßen für Kinder auf der Flucht. Hier zwei Mädchen im Dakhla Flüchtlingslager, Algerien, 2003. (UN Photo/Evan Schneider)

Empfehlungen des UN-Kinderhilfswerks

Die weitestgehende Schutzlosigkeit der Frauen und Kinder auf der zentralen Mittelmeerroute befördert die beschriebenen Menschenrechtsverletzungen. So zeigen Frauen wie auch Kinder Misshandlungen und sexualisierte Gewalt sowie Schutzbedürftigkeit bei den entsprechenden staatlichen Stellen meist nicht an. Mit Sicherheit auch, weil es diese staatlichen Stellen in Staaten wie Libyen teils nicht gibt. Ein weiterer Grund ist jedoch die Angst vor Zurückweisung oder Abschiebung, Scham und der unsichere rechtliche Status der Migrant*innen. Zahlreiche internationale Menschenrechtsabkommen, wie das Übereinkommen über die Rechte des Kindes oder das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie der Zivil- und Sozialpakt garantieren jedoch eben diese Rechte. Frauen und Kinder auf der Flucht bleiben und sind zuallererst Frauen und Kinder und genießen somit einen gesonderten Menschenrechtsschutz. Hieran sind Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen entlang der zentralen Mittelmeerroute rechtlich gebunden.

Zum Ende des Berichtes über die Situation von Kindern und Frauen auf der Flucht formuliert das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen konkrete Forderungen an die Mitgliedsstaaten. Dazu zählen die Aufforderungen, Fluchtursachen konsequenter zu bekämpfen, Kinder auf der Flucht besser vor Missbrauch und Gewalt zu schützen und die Inhaftierung von Minderjährigen auf Grund ihres Status als Migrant*innen zu beenden. Des weiteren soll der Zugang zum Bildung- und Gesundheitswesen aufrecht erhalten werden, die Einheit der Familie als Schutzinstrument gewahrt (vgl. UNHCR-Empfehlungen) und in Transit- und Zielländern Maßnahmen ergriffen werden, die einer Diskriminierung von Migrant*innen entgegenwirken.

Klare Empfehlung an die Zielländer

Menschenrechtsverletzungen an Kindern und Frauen auf der Flucht sind gravierend- nicht nur in Libyen. Aktuelle Forderungen aus europäischen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, darunter Ungarn, Großbritannien und Deutschland, zentrale Aufnahmeeinrichtungen für aufgegriffene Migrant*innen in Libyen einzurichten oder Rückführungen vorzunehmen, scheinen im Lichte des UNICEF-Berichtes zumindest fragwürdig. Im Bericht der UNSMIL findet sich hierzu auch eine klare Empfehlung: Die Vereinten Nationen erachten Libyen nicht als sicheres Herkunftsland und raten aufgrund der Menschenrechtssituation deshalb von Rückführungen oder einer Internierung ab. Dies bezieht sich auf Migrant*innen die bereits in Europa sind aber auch auf diejenigen, die an Libyens Küsten von Rettungsschiffen aufgegriffen werden.


Prokop Bowtromiuk

Lesen Sie hier den UNICEF-Bericht „Broken Dreams“ zu Flucht- und Migrationsrouten in Mittelamerika...

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